Kein Widerspruch in sich: Rechtsanwält*innen als authentische Chefs

Der größte Teil der Rechtsanwält*innen in Deutschland ist nach wie vor selbständig tätig und damit Unternehmer ohne spezifische unternehmerische Ausbildung. Und weil die Unterstützung durch qualifizierte Rechtsanwaltsfachangestellte für die allermeisten unverzichtbar ist, sind sie noch etwas: Chefin oder Chef. Was auch nicht Teil des Studiums oder des Referendariats ist und nur manchmal intuitiv klappt. Wo bekommen wir ihn also her, den Chef- oder Chefinnen-Hut, den wir uns bildlich gesprochen aufsetzen sollen? Und den manche von uns gar nicht tragen wollen, weil sie sich als ein Team fühlen oder sogar als eine Familie. Aufgepasst an dieser Stelle, die Mitarbeiter*innen sehen dies oft ganz anders. Dies gar nicht mal im Hinblick auf die Werte, die sich dahinter verbergen, jedenfalls aber was die Wortwahl angeht.

 

Natürlich können wir uns theoretisch auseinandersetzen mit den verschiedenen Stilen von Mitarbeiterführung, können schauen was gut zu uns passt. Ob wir uns eher in einer autoritären Rolle sehen oder kooperativ unterwegs sind oder ob für uns ein Laissez-faire die stimmigste Variante darstellt. Und möglicherweise sind Sie auch jemand, der gar nicht in Schubladen passt und unterschiedliche Anteile hat, die vielleicht je nach Tagesform oder Situation auch noch unterschiedlich ausgeprägt sind. Da klingt es natürlich verlockend, wenn immer mehr von einem authentischen Führungsstil die Rede ist, denn dabei können wir ja wir selbst bleiben und müssen noch nicht einmal das berühmte „Eigentlich bin ich ganz anders“ mitdenken.

 

Die gute Nachricht bleibt gut, denn sie stimmt. Gleichzeitig hat aber Authentizität nichts zu tun mit einem lapidaren „So bin ich eben.“ Es bedeutet nicht, dass cholerische Ausbrüche angemessen sind, wenn die Mitarbeiterin die Akte nicht findet, die ich selbst verbummelt habe (was natürlich im Zuge der Digitalisierung ein verschwindendes Problem darstellt). Es bedeutet auch nicht, dass ich mich in meinem Büro verschanzen kann und hoffen, dass die Konflikte schon irgendwie wieder verschwinden, weil ich selbst es nun mal außerhalb der Gerichtsverfahren gern friedlich habe. Und es ist ganz sicher keine Liste von lauter wunderbaren Eigenschaften, die ich mir aneignen muss, um in irgendeiner Art und Weise „echt“ zu werden, die genau das dann längst nicht mehr ist.

 

Womit authentische Führung aber sehr viel zu tun hat sind Ihre eigenen Werte und zwar die, die für Sie persönlich besonders wichtig sind. Das setzt allerding voraus, dass Sie Ihnen bewusst sind. Perfekte Führungskräfte sind kaum zu finden. Wichtig ist deshalb vor allem die Bereitschaft zu reflektieren und die eigenen Verhaltensweisen zu hinterfragen. Um dann immer wieder bewusst zu entscheiden. Denn als Chefin oder Chef haben Sie die Verantwortung für sich selbst, für Ihr Verhalten und auch für Ihre Entscheidungen und die bewusste Führung Ihrer Kanzlei.

 

Wir brauchen also sehr viel Aufmerksamkeit und außerdem auch Verständnis und zwar sowohl für uns als auch für unsere Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen. Wenn wir uns selbst schon nicht erlauben zuzugeben, dass Stress und Druck eine Wirkung auf uns haben, fällt es uns auch schwerer, Verständnis für die Situation unserer Gegenüber zu entwickeln. Weil wir dann schnell mal fälschlicherweise meinen, dass die Dinge eben so sind wie sie sind und nicht geändert werden können. Dass die Klageerwiderung eben aufwändig ist und außerdem auch nervig und dass sie deshalb auch erst nach schon erfolgter Fristverlängerung am letzten Tag angegangen werden kann und dann war es das eben mal mit dem pünktlichen Feierabend. Und zwar auch für die Mitarbeiterin, die den Schriftsatz noch ausfertigen soll.

 

Natürlich dürfen Sie gestresst sein, weil eine Sache vielleicht unangenehm ist oder Sie gar nicht die vollständigen Unterlagen erhalten haben oder ständig durch Sachstandsanfragen unterbrochen werden. Selbstverständlich dürfen wir uns ärgern und das sogar auch mal über uns selbst, aber Achtung: Ärger ist ein Reflex, jedenfalls für einige Sekunden, vielleicht auch für eine halbe Minute. Danach ist es eine Entscheidung. Denn wir haben es selbst in der Hand, für welche Herangehensweise wir uns nach der ersten spontanen Reaktion entscheiden. Wir können Verständnis haben für uns und unseren Ärger und dann trotzdem bewusst entscheiden, welchen Druck wir weitergeben und an welcher Stelle wir etwas absichtlich anders machen, weil wir auch die Perspektive wechseln und Verständnis für unsere Mitarbeiter*innen aufbringen können.

 

Für eine authentische Führung braucht es außerdem Vertrauen und auch hier gilt wieder, dass wir damit gern bei uns selbst anfangen dürfen. Denn wie wollen Sie sich sonst auch noch auf andere Menschen verlassen und Aufgaben delegieren? Wir haben einen Beruf voller einzuhaltender Formalien und Fristen, über allem schwebt ständig das Haftungsrisiko und trotzdem: Natürlich dürfen Sie darauf vertrauen, dass Sie gut genug sind für all diese Herausforderungen. Denken Sie mal zurück an Ihre Examen – Sie können alles schaffen! Und dann wird es im nächsten Schritt auch immer leichter, auch andere in dieses Vertrauen einzubeziehen und sich zu einer Führungskraft zu entwickeln, die den Wunsch des Teams nach Orientierung und Glaubwürdigkeit abdeckt.

 

Stellen Sie sich immer wieder gute Fragen. Was ist Ihnen besonders wichtig? Wissen das auch Ihre Mitarbeiter*innen? Passt es mit dem zusammen, wie Sie selbst sich verhalten?

 

Das Bild von Ihnen selbst als Chefin oder Chef wird immer schärfer werden und nach und nach haben Sie sich dann den eigenen, authentischen und ganz individuellen Hut zusammengebastelt – selbst wenn Sie den eigentlich erstmal gar nicht tragen wollten. Diese eigene Kreation wird Ihnen stehen.