„Bei Deinen Examina nehmen die Dich mit Kusshand!“ – Thomas lässt diesen Satz seines besten Kumpels noch nachwirken, während er in der WG-Küche am dampfenden Kaffee nippt. Heute ist sein erstes Bewerbungsgespräch. Er hat sein Examen erst vor ein paar Wochen mit 12 Punkten bestanden. Direkt im Anschluss flog er mit Freunden nach Bali und zwei Tage nach seiner Rückkehr kam schon der Anruf mit der Einladung einer namhaften Kanzlei. Woher sie seine Noten kannten und seine Rufnummer hatten, weiß er nicht. Es ging Alles so unkompliziert, ein bisschen wie in einem amerikanischen Film. „Die Firma“ denkt er und grinst.
Eine Stunde später betritt er die Kanzleiräume. Sein Anzug sitzt und die blonden Haare hat er mit viel Gel streng nach hinten gekämmt. Er steuert geradewegs auf den imposanten Empfang zu. Eine attraktive Frau Mitte 50 lächelt ihn freundlich an. Sie trägt die grauen Haare modisch kurz und der rote Lippenstift bildet einen erfrischenden Kontrast zum Weiß ihrer Zähne. Sie könnte direkt einer Werbeanzeige der Vogue entsprungen sein.
„Ah, Herr Dr. Bismarck! Herzlich Willkommen! Nehmen Sie doch bitte kurz hier vorn Platz. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee oder ein Glas Wasser?“
Zwei Stunden später steht Thomas vor dem Gebäude in der Mittagssonne. Um ihn herum herrscht geschäftiges Treiben. Mittagspause. In dem Viertel mit vielen Banken und Kanzleien laufen schick angezogene Menschen herum, sitzen in Restaurants oder essen Brote im Schatten großer Kastanien. Er fühlt sich, als sei er gerade aus dem Kino gekommen. Zurück in die Realität. Alles etwas unwirklich. Das Gespräch lief phantastisch.
Work hard, play hard!
Ein paar Monate vergehen und Thomas ist mittlerweile Associate in der Kanzlei. Das Arbeitspensum ist immens, die Anforderungen hoch und die Lernkurve steil. Doch das gefällt ihm. Er ist genau da, wo er immer sein wollte und es ist sogar besser als er es sich vorgestellt hatte. Er hat ein eigenes, lichtdurchflutetes Büro und wenn er die Tür schließt, hat er völlige Ruhe. Das ist für’s Arbeiten optimal, doch ein paar Mal am Tag freut er sich, vor die Bürotür treten zu können und direkt auf Kollegen zu treffen, die sich auch für ein bis zwei Kaffeelängen eine kurze Schaffenspause gönnen. Die Stimmung zwischen den Anwälten ist großartig.
Thomas gehört zu einer kleinen Gruppe ausgesprochener Frühaufsteher und sitzt oft schon vor 6 Uhr am Schreibtisch. Gegen 8 Uhr trifft er sich dann gern mit ein paar Kollegen in der hauseigenen Kantine, die diese Bezeichnung aber eigentlich nicht verdient hat, denn die Speisen haben durchweg Restaurant-Niveau und die Atmosphäre gleicht eher einem Szenelokal. Es gibt hauptsächlich leichte, regionale Küche mit frischen Bio-Produkten, schließlich soll das Essen die Anwälte nicht mit brainfog sedieren, sondern stärken und Energie liefern. Doch auch der italienische Pizzaofen sowie die BBQ-Days und After-Work-Drinks auf der Dachterrasse sollten nicht unerwähnt bleiben. Meist trinkt Thomas seinen ersten Kaffee morgens in der sonnigen Cafeteria auf dem Dach. Die französischen Buttercroissants können einer Pariser Boulangerie locker Konkurrenz machen!
Da die Anwälte in den letzten Jahren spürbar gesundheitsbewusster und sportlicher geworden sind, werden auch diese Bedürfnisse von der Kanzlei bedient. Es gibt im Haus einen großen Pool, ein Fitnessstudio mit Trainer, einen Physiotherapeuten und einen Masseur. Als Thomas im Rahmen der Hausführung das erste Mal die Pool-Halle mit den bodentiefen Fenstern und der spektakulären Aussicht betrat, war er kurz sprachlos. Mittlerweile hat er sich jedoch langsam an die herausragenden Vorteile gewöhnt, die den Anwälten geboten werden. So liebt er es zum Beispiel, sich an anstrengenden Tagen zwischendrin für’s Powernapping in eine der vier kleinen Schlafkojen zurückzuziehen und weiß auch die von der Kanzlei bezahlten Wellness-Wochenenden zu schätzen.
Work-Life-Balance? Was ist das?
Thomas nimmt die Kanzlei wie einen eigenen Mikrokosmos wahr. Den Großteil des Tages verbringt er dort, manche Abende und sogar einzelne Wochenenden. Fehlt nur noch der gemeinsame Urlaub, denn selbst die jährliche Skireise sei legendär, hörte er.
Die gute kollegiale Atmosphäre unter den Anwälten wird von der Kanzlei auf vielerlei Weise gefördert: Es gibt Logenplätze und Freikarten für Sportveranstaltungen, Konzerte und Theater. Bei Fußball-EM und -WM werden die spannenden Spiele auf einer Leinwand gezeigt. Je nach Uhrzeit gibt es dabei Bier vom Fass, frische Brezeln und Fingerfood. Und schließlich gibt es noch das große Sommerfest, verschiedene Events mit geladenen Mandanten und natürlich die feucht-fröhliche Weihnachtsfeier. Zwischendrin kann es darüber hinaus auch mal spontan Champagner und Canapés geben, wenn es etwas Besonderes zu feiern gibt.
Selbst um die banaleren Notwendigkeiten des Lebens wird sich gekümmert und so gibt es im Haus auch eine Reinigung, eine Änderungsschneiderei und einen hervorragenden Frisör.
Thomas fühlt sich rundum wohl. Und als Sahnehäubchen fliegt er demnächst für zwei Wochen nach Toronto. Es handelt sich dabei um die besonders beliebten Auslandswochen, in denen die Anwälte einmal im Jahr die Möglichkeit bekommen, die Auslandsbüros der Kanzlei kennenzulernen. Ob New York oder Kapstadt, Los Angeles oder Paris,…
Eine traumhafte Vorstellung
Plötzlich klingelt der Wecker und reißt Thomas unsanft aus dem Schlaf. Er muss sich erstmal orientieren. Wie, das war nur ein Traum? Schade….
Er blinzelt auf das Ziffernblatt: 7 Uhr. Um 10 Uhr hat er das Vorstellungsgespräch bei einer kleinen Hamburger Kanzlei. Es wäre toll, dort auch ein attraktives Paket mit ein paar Extras angeboten zu bekommen. Vielleicht die Möglichkeit für Homeoffice oder die Mitgliedschaft in einem schönen Fitnessstudio. Bescheidene Wünsche, wenn man überlegt, was die großen Kanzleien bieten. Sie umgarnen ihre Mitarbeiter nach allen Regeln der Kunst. Doch davon kann er wohl nur träumen…