Die Vorbereitungen für den diesjährigen Anwaltstag fielen mitten in die Zeit, in der Europa mit dem Coronavirus kämpfte. Ergo wanderte die Juristenveranstaltung erstmals ins Netz und findet in diesem Jahr am Bildschirm statt. Ein Gespräch mit Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins (DAV), über das virtuelle Debüt des Anwaltstags, die Wucht, mit der die Pandemie die Anwaltschaft traf und warum das Notariat für Anwälte attraktiv ist.
Der Anwaltstag 2020 wird Corona-bedingt erstmals online stattfinden. Wie schwierig gestaltete sich die Vorbereitung und welche Themenstellungen prägen den diesjährigen Anwaltstag?
Edith Kindermann: Der virtuelle Deutsche Anwaltstag steht – weiterhin – unter dem Motto „Die Kanzlei als Unternehmen“. Es wird einige Veranstaltungen geben, die sich mit wirtschaftlichen Aspekten anwaltlicher Tätigkeit beschäftigen, etwa zum Thema Diversity als Wirtschaftsfaktor oder zur Frage, ob Geldverdienen an irgendeinem Punkt unmoralisch wird.
Der virtuelle Anwaltstag kann und soll den analogen natürlich nicht ersetzen. Die Entscheidung darüber ist uns deswegen auch nicht leichtgefallen. Nach den Prognosen über die Durchführung von Großveranstaltungen vor einigen Wochen war es aber ein Gebot der Stunde, in diesem Jahr einen anderen und neuen Weg einzuschlagen. Das Bedürfnis der Berufsangehörigen nach Information, Austausch und Fortbildung untereinander aber auch mit Angehörigen anderer Berufe und Politik ist in diesen Zeiten nicht geringer, sondern angesichts der Flut von Änderungen enorm. Ein großer Teil des ursprünglich geplanten Programms konnte erfreulicherweise in Online-Formate übertragen werden. Aber auch gänzlich neue Veranstaltungen stehen nun auf der Agenda, etwa zur Corona-App oder zur Gewährleistung parlamentarischer Kontrolle in der Krisenzeit. Es gibt Webinare, Podcasts, Live-Streams – auch in der Pandemie muss niemand auf die Fortbildungsmöglichkeiten und den rechtspolitischen Austausch eines Anwaltstags verzichten.
Die kanzleitypische Präsenzkultur ermöglicht kein leichtes Umschwenken auf Homeoffice, wie es vielen größeren Unternehmen mit entsprechenden Ressourcen möglich ist und war. Welche Möglichkeiten haben Anwälte, mit ihrer Kanzleiorganisation adäquat auf Corona zu reagieren?
EK: Anwältinnen und Anwälte sind nicht nur im konkreten Mandat Problemlöser, sondern suchen in jedem Einzelfall einen Weg, um Mandanten zu helfen. Telefon, Fax und E-Mail-Korrespondenz waren schon vor der Pandemie in allen Kanzleien an der Tagesordnung. Anwältinnen und Anwälte haben bereits in den vergangenen Jahren mit der zunehmenden Mobilität von Mandanten Schritt gehalten. In der Pandemie sind je nach der Ausrichtung der Kanzlei weitere Mittel hinzugetreten. Sei es der verstärkte Einsatz von Videokonferenzen, die gemeinsame Arbeit über entsprechende Tools an einem Dokument, Videochats und Videosprechstunden, aber auch Schutzmaßnahmen in all den Fällen, in denen ein persönlicher Kontakt im Mandat unumgänglich ist. Aus dem bereits am Beginn der Krise vom DAV eingerichteten Forum, in dem sich Kolleginnen und Kollegen auch über praktische Fragen mit uns und miteinander austauschen konnten, haben wir an den Ideen vor Ort teilhaben können, etwa am Einbau von Plexiglasscheiben in der Kanzlei.
Besonderes Augenmerk war zudem auf die Kontaktbeschränkungen und die in einzelnen Bundesländern oder Landkreisen sogar verhängten Ausgangssperren zu richten. Hier war es erforderlich, stets aktuell den Stand vor Ort zu kennen, mit der Politik die Rahmenbedingungen für einen uneingeschränkten Zugang zum Recht zu klären und ggf. im Einzelfall Hilfestellung zu leisten, wenn der Zugang zur Anwaltschaft beschränkt war.
Hinweis
Die PDF-Broschüre Elektronischer Rechtsverkehr – ERV in Zeiten von Corona (02/2020) mit dem Schwerpunkt, wie Sie das beA im Homeoffice sicher nutzen, finden Sie auch in unserer neuen Bibliothek Anwaltspraxis Wissen: https://bibliothek.anwaltspraxis-wissen.de/#doc/60259/1
Ein Programmpunkt beschäftigt sich mit den attraktiven Möglichkeiten, ein Notariat aufzubauen bzw. als bisheriger Nur-Anwalt auch Notar zu werden. Welche besonderen Perspektiven bietet dieses Modell?
EK: Die Zahl der Notarinnen und Notare ist in den vergangenen Jahren erheblich zurückgegangen. Gleichzeitig ist das Bedürfnis nach notariellen Tätigkeiten unverändert hoch, sei es im Immobilienbereich, in gesellschaftsrechtlichen Angelegenheiten, aber auch bei der Gestaltung der Vermögensnachfolge und in familienrechtlichen Angelegenheiten. Zudem hat der Gesetzgeber bereits 2013 in der Begründung zum GNotKG erklärt, dass angesichts des Rückzugs von Steuerberatern und Anwälten in der Fläche auf die Dauer dem Notariat die Aufgabe zukommen könne, in der Fläche die Rechtspflege zu sichern. Zudem ist das Notariat in Bezug auf den Einsatz digitaler Medien und die Digitalisierung der Arbeitsabläufe in einem erheblichen Umbruch und damit zukunftsgerichtet.
Angesichts der gegenwärtigen IT-Infrastrukturen bei Gericht und in vielen Kanzleien bleiben die Erwartungen an die Digitalisierung häufig noch hinter der Realität zurück, was beispielsweise den Anteil der per Videoübertragung durchgeführten Verhandlungen betrifft. Was muss sich hier ändern und ist beispielsweise die österreichische Justiz in Sachen Digitalisierung ein Vorbild?
EK: Der DAV ist seit Jahren intensiv mit der bunten Vielfalt von Fragestellungen im Bereich der Digitalisierung befasst. Diese betreffen nicht nur die Kommunikation zwischen den verschiedenen Beteiligten. Es geht vielmehr um die Frage, welche Arbeitsabläufe in welcher Weise digital abgebildet werden können. Einigkeit besteht dabei, dass die juristische Arbeit weder ganz noch teilweise durch Künstliche Intelligenz ersetzt werden kann. Arbeitshilfen, die Einzelfragen einer juristischen Prüfung ganz oder teilautomatisiert unterstützen, werden sicherlich zunehmend eingesetzt. Sie können jedoch nicht Grundlage einer Entscheidung sein, insbesondere nicht in der richterlichen Entscheidungsfindung. Grenzüberschreitend ist daher auch die Forderung nach einer Transparenz beim Einsatz von Legal-Tech-Produkten.
Was bedeutet das konkret?
EK: Die Betroffenen müssen wissen, wer mit welchen Interessen und welchen Grundannahmen hinter der Entwicklung eines Algorithmus steht. Zudem müssen alle Verfahrensordnungen auf digitale Abläufe umgedacht werden. Dies ist eine große Aufgabe, zu der der DAV seit Längerem Vorarbeiten leistet und mit allen Berufsgruppen im Austausch steht.
Die Pandemie hat auch die Gerichte auf dem Weg in die Digitalisierung überrascht. Die technischen Möglichkeiten zur Durchführung der seit Jahren zulässigen Videoverhandlungen sind häufig auch bei den Gerichten nicht vorhanden. Zudem führt der verstärkte Einsatz von Videoverhandlungen zu der notwendigen Frage, welche Voraussetzungen an derartige Verhandlungen gestellt werden können. Es geht z.B. um die Frage, auf welchem Wege sichergestellt ist, dass potenzielle Zeugen der Verhandlung nicht folgen können und auf welche Weise wir den Grundsatz der Öffentlichkeit von Verfahren wahren. Wichtig ist daher, dass keine Partei zur Verhandlung via Video gezwungen wird und wir Wege finden, das hohe Gut der im 19. Jahrhundert erstrittenen mündlichen Verhandlung in die heutige Zeit zu überführen. Der differenzierte Blick auf die Entwicklung in Österreich zeigt, dass mit dem elektronischen Rechtsverkehr auch dort in aller Regel nur die Kommunikation zwischen den Beteiligten erfasst ist. Die Entwicklung elektronischer Gerichtsakten und digitaler Arbeitsabläufe ist auch dort eine aktuelle Aufgabe, die in Österreich ebenfalls mit hoher Priorität betrachtet wird.
Die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer zeigen sich in der Praxis häufig noch fehleranfällig. Sehen Sie den elektronischen Rechtsverkehr insoweit gut aufgestellt im Hinblick auf den Stichtag 01.01.2022?
EK: Wir haben den Zeitpunkt nie in Frage gestellt. Entscheidend ist natürlich, dass der Netzausbau in Deutschland insgesamt vorankommt. Hier gibt es noch immer etliche weiße Flecken auf der Landkarte – gerade in Sachen Upload-Geschwindigkeit – und das nicht nur in der Fläche, sondern auch im Innenstadtbereich von Großstädten. Die technischen Erfahrungen mit der Belastbarkeit der Netze zu Beginn der Pandemie haben uns einen Eindruck gegeben, dass hier Einiges zu tun ist. Wenn die Nutzung des beA verpflichtend ist, setzt dies aber auch voraus, dass an jeder Stelle eine entsprechende Infrastruktur für seinen Einsatz nutzbar ist. In Bezug auf den Wunsch nach einem Kanzleipostfach gilt es, die Entwicklung zu dem in der BRAO-Reform vorgesehenen elektronischen Kanzleiregister bzw. die im Mauracher Entwurf zur Reform des Personengesellschaftsrechts des BMJV vorgesehene Gesellschaftsregister für eingetragene GbR zu verfolgen.
[www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/042020_Entwurf_Mopeg.pdf?__blob=publicationFile&v=3] Kanzleipostfächer setzen Transparenz voraus. Beide Wege erscheinen hierfür geeignet.
Stichwort angepasstes RVG: wie stellt sich hier die aktuelle Situation dar? Und wie stark sind Anwälte Corona-bedingt betroffem bzw. gar existenzbedroht?
EK: Aus einer aktuellen BRAK-Umfrage geht hervor, dass je rund 17% der Befragten einen Rückgang bei Neumandaten von bis zu 50 bzw. bis zu 75% beklagen. Es ist daher erforderlich, dass die Finanzhilfen von Bund, Ländern und Kommunen auch der Anwaltschaft zur Verfügung stehen, und dies entgegen den bisherigen Regelungen zu dem Zeitpunkt, zu dem die Umsatzrückgänge in den Kanzleien ankommen. Konkret bedeutet dies, dass die Antragsfrist verlängert werden sollte, da die Umsatzrückgänge aus den in den letzten Monaten nicht erteilten Aufträgen oder ausgefallenen Verhandlungen erst in den nächsten Wochen und Monaten spürbar werden, weil keine Rechnungen erteilt werden konnten.
Die seit 2013 nicht erfolgte Anpassung der Anwaltsvergütung an die Entwicklung der Tariflöhne gewerblicher Arbeitnehmer verschärft das Problem für die Anwaltschaft, so dass die inzwischen geäußerte Bereitschaft zur Anpassung auf Ebene des Bundes und der Länder nunmehr auch in reale Regelungen umgesetzt werden muss.
Eine weitere sich verschärfende Entwicklung: In vielen europäischen Ländern findet eine immer stärker wachstums- und gewinnorientierte Kanzleiausrichtung statt. Welche Prozesse im EU-Ausland lassen Rückschlüsse zu, welche Entwicklungen dem deutschen Rechtsmarkt bevorstehen könnten?
EK: Die Entwicklungen anderer Länder können nicht pauschal auf Deutschland übertragen werden, da das berechenbare System der Anwaltsvergütung einerseits sowie der über Beratungs- und Prozesskostenhilfe geschaffene Zugang aller zum Recht nirgendwo in Europa zu vergleichen ist. Aus diesem Grunde führte auch eine Kollegin aus England aus, dass es in Deutschland keinen vergleichbaren Bedarf für studentische Law Clinics als Zugang zum Recht gebe, da Deutschland mit der Beratungshilfe einen Zugang auch für Unbemittelte zu einem Anwalt schaffe. Darüber hinaus verfügt Deutschland über eine Struktur aus einer gesetzlichen Anwaltsvergütung und einem darauf aufbauenden System der Kostenerstattung, das ebenfalls nicht mit Ländern zu vergleichen ist, in denen die Anwaltsvergütung nach Zeitaufwand abgerechnet wird und damit die Kosten erheblich über denjenigen in Deutschland liegen. Erforderlich ist daher jeweils ein differenzierter Blick auf die Modelle der Konfliktlösung und nicht eine pauschale Übernahme.
In immer mehr IT-Lösungen für Kanzleien spielt die Cloud eine zentrale Rolle. Die berufs- und datenschutzrechtlichen Hürden sind bei Anwälten hoch, entsprechend ist der Einsatz von Cloud-Lösungen und Kommunikationsmitteln für Kanzleimitarbeiter nicht immer leicht umzusetzen?
EK: Die Berufsordnung für Rechtsanwälte regelt, dass zum Schutz des Mandatsgeheimnisses die hierfür erforderlichen organisatorischen und technischen Maßnahmen ergriffen werden müssen, die risikoadäquat und für den Anwaltsberuf zumutbar sind. Vor der Entscheidung für Cloud-Dienste sollte zunächst die Frage der Notwendigkeit im Raum stehen, also ob sie wirklich einen Mehrwert gegenüber lokaler Software bieten. Darüber hinaus müssen sich die Kanzleien über die ständig neuen technischen Anforderungen im jeweiligen Arbeitsbereich informieren. So führt die Einführung eines zentralen Urkundenarchivs im Notariat mit Wirkung zum 01.01.2022 und die Vorgabe, dass eine Speicherung von Daten außerhalb der Kanzlei nur auf einem Server der Bundesnotarkammer zulässig ist, dazu, dass alle Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare sich bereits jetzt intensiv mit der Frage befassen müssen, welche technischen Varianten ihnen zur Verfügung stehen. Bei der Auswahl eines Dienstleisters ist es zudem erforderlich, sich an Zertifikaten und Standards zu orientieren. So hat etwa das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) mit dem C5 Standard einen Kriterienkatalog mit Mindestanforderungen an sicheres Cloud-Computing formuliert.
Seit Jahren rückläufige Ausbildungszahlen und ein immer stärkerer Fachkräftemangel? Wie lässt sich die Entwicklung umkehren und worauf müssen sich Kanzleien und Anwälte in den kommenden Jahren einstellen?
EK: Das seit Jahren bestehende Problem eines stetig zunehmenden Fachkräftemangels wird durch die Corona-Krise noch verstärkt. Mit der DAV-Kampagne „Ein Job für kluge Köpfe” sollen daher die Rechtsanwaltskanzleien bei der Besetzung neuer Ausbildungsplätze unterstützt werden. Überlegungen zur rechtlichen Zulässigkeit von Praxisnetzen nach Art derselben in der Ärzteschaft, können ein gutes Mittel sein, um Know-how zu bündeln und technische Synergieeffekte zu nutzen.